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In der Radiologie gibt es derzeit zahlreiche Herausforderungen. Dazu zählen unter anderem Personalmangel, steigende Untersuchungszahlen und sinkende Vergütung. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz gilt als eine der Möglichkeiten, die Effizienz zu steigern. Prof. Dr. med. Sven Mutze, Direktor des Instituts für Radiologie und Neuroradiologie am Unfallkrankenhaus Berlin, und Dr. med. Leonie Gölz setzen im ukb auf eine Plattformlösung von Aidoc.

Weshalb haben Sie sich bereits frühzeitig für eine KI-Lösung entschieden? 

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„ Wir haben nicht das Problem, dass wir das Blut im Kopf nicht erkennen, sondern wir wollen, dass uns das System darauf hinweist: ‚Achtung! Hier ist ein Bild mit einem akuten Befund‘.“
Prof. Dr. med. Sven Mutze, 
Direktor des Instituts für Radiologie und Neuroradiologie am Unfallkrankenhaus Berlin (Bild: Unfallkrankenhaus Berlin)

PROF. MUTZE: Bei uns kam diese Frage eigentlich nicht aus der Radiologie des Krankenhauses, sondern wir arbeiten in einem großen Teleradiologieverbund, in dem wir 22 Krankenhäuser betreuen. Was uns Sorgen gemacht hat, waren die Nachtdienste. Wenn zwei Radiologen vor Ort Dienst haben, laufen aus vielen Krankenhäusern zeitgleich Bilder ein und wir stellen uns die Frage: „Schauen wir auf die wichtigsten, also auf die akuten Fälle zuerst?“. 

Dabei erschien es uns besonders bei der Frage nach „Blutung im Kopf“ sehr sinnvoll, dass uns eine KI im Hintergrund bei der Priorisierung der Befunde unterstützt. Wir haben nicht das Problem, dass wir das Blut im Kopf nicht erkennen, sondern wir wollen, dass uns das System darauf hinweist: „Achtung! Hier ist ein Bild mit einem akuten Befund“. Über dieses Szenario haben wir den Einstieg in die KI geschafft. Wir haben also mit der Teleradiologie und der Detektion von Hirnblutungen begonnen und sind gerade dabei, das System um andere Anwendungen zu erweitern. Die KI stellt für uns in erster Linie ein Sicherheitssystem dar. 

Was zeichnet Ihrer Meinung nach eine gute, tief integrierte KI-Lösung aus? 

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„ Eine gute, tief integrierte KI-Lösung unterstützt den Arbeitsfluss der Radiologen. Am besten merken wir gar nicht, dass der Algorithmus im Hintergrund läuft.“ 
Dr. med. Leonie Gölz, 
Fachärztin für Radiologie und Neuroradiologie (Bild: Unfallkrankenhaus Berlin)

DR. GÖLZ: Eine gute, tief integrierte KI-Lösung unterstützt den Arbeitsfluss der Radiologen. Am besten merken wir gar nicht, dass der Algorithmus im Hintergrund läuft. Für uns ist es wichtig, ohne zusätzlichen Aufwand zur richtigen Zeit über die richtigen Informationen zu verfügen. 

PROF. MUTZE: Das Problem am Anfang ist, dass man primär in seinem PACS arbeitet. Durch den Einsatz von KI kommen nun zahlreiche weitere Anbieter von Algorithmen hinzu, die in den Arbeitsablauf integriert werden müssen. 

Wie Frau Gölz schon sagte: Die Integration in den Workflow ist das entscheidende Thema. Da noch kaum Anbieter über tief integrierte Lösungen verfügen, unterscheiden sich die Anwendungen darin. Bei dem System, das wir im Einsatz haben, alarmiert eine Applikation am Bildschirmrand, sobald akute neue Fälle einlaufen und zeigt die gefundene Pathologie auf einen Klick an. Damit ist die Applikation schon relativ gut integriert obwohl nicht alles aus einer Hand kommt. Das Thema der nächsten Jahre wird sein, wie sich die großen PACS- und KI-Anbieter arrangieren. 

Welche Rolle spielt der Datenschutz? 

DR. GÖLZ: Mit dem Datenschutz haben wir uns in der Tat zwei Jahre beschäftigt. Da gibt es in Deutschland zurecht einiges zu beachten. Es ist uns gelungen, die Probleme zu lösen, indem wir eng in die Verhandlungen mit den Unternehmen eingestiegen sind. Wir haben beispielsweise festgelegt, dass unsere Daten Deutschland nicht verlassen und die Datenverarbeitung Europa nicht verlässt. 

PROF. MUTZE: Entscheidend ist, dass die Datenschützer im Krankenhaus ebenfalls daran interessiert sind, eine funktionierende Lösung zu schaffen. Bedenken findet man immer. Das kennen wir ja auch aus den Anfängen der digitalen Radiologie. Wenn jemand nur die Probleme sieht, wird es schwierig. Wenn man jedoch daran interessiert ist, Lösungen zu finden, geht vieles. Und da muss ich sagen, hat sich das gesamte Krankenhaus mit der Administration hinter unser Projekt gestellt und wollte die Künstliche Intelligenz in der Radiologie zum Laufen bringen.

Welche Anwendungsfälle bieten sich für den Einsatz von KI in der Radiologie noch an? 

DR. GÖLZ: KI-Anwendungen beschränken sich zur Zeit noch darauf, dass sie einen Teilaspekt in einem Befund hervorheben. Das heißt zum Beispiel beim „Thema Blut im Kopf“ wird die Blutung detektiert. Wir haben natürlich noch zahlreiche andere Aufgaben, wenn wir ein Schädel-CT befunden. Bei akuten Fällen kann es vorkommen, dass es viele Details gibt, die untergehen können. Das ist zum Beispiel so, wenn ein Patient oder eine Patientin akut, auf Grund eines Unfalls oder einer anderen akuten Pathologie, in schlechtem Zustand das Krankenhaus erreicht. Da kann es vorkommen, dass ein Nebenbefund, der ebenfalls relevant ist, wie zum Beispiel eine Lungenarterienembolie, im Eifer des Gefechtes untergeht. Für die zusätzliche Überprüfung mit KI eignen sich also alle akuten Pathologien und Algorithmen zur Detektion relevanter Nebenbefunde, die man übersehen könnte, weil man sich so sehr auf das aktuelle Ereignis fokussiert.

PROF. MUTZE: Es hat uns noch etwas überrascht: gerade weil die Lungenembolie eines der Tools ist, die wir im Einsatz haben. Es geht weniger um die akute Lungenembolie, sondern eher um die inzidentelle Lungenembolie. Wir werden meist gar nicht danach gefragt: Hat der Patienten eine Lungenembolie? Der Patient kommt wegen eines Tumors oder eines anderen Krankheitsfalls zu uns und die KI stellt plötzlich fest: er hat auch eine Lungenembolie. Ehrlicherweise kann keiner von uns Radiologen behaupten, stets alle Nebenbefunde zu sehen. Da ist es extrem hilfreich, wenn ein im Hintergrund laufendes System automatisiert auf weitere Befunde hinweist, denn diese Nebenbefunde führen oftmals auch zu therapeutischen Konsequenzen. Für uns ist es von großem Vorteil, dass auf einmal Befunde entdeckt werden, die wir sonst übersehen hätten. 

Haben Sie sich vorher unterschiedliche Lösungen vor Ort angesehen bzw. was hat Sie von der Aidoc-Lösung überzeugt?

PROF. MUTZE: Wir haben über viele Jahre nicht nur von den BG-Kliniken aus, sondern auch zusammen mit anderen Kliniken KI-Anbieter gescreent. Dabei sind wir an junge Unternehmen herangetreten und haben uns angesehen, was die können, welche Philosophie sie verfolgen und über welche Integrationsfähigkeiten sie verfügen. Wir haben uns von der Mammographie bis zur Prostata und vom Polytrauma bis zur Frakturerkennung alles angesehen. Leider mussten wir feststellen, dass oftmals Insellösungen angeboten wurden, die nicht gut integrierbar waren.

An unserer Lösung hat uns am besten gefallen, dass die Interaktion mit unserem PACS auf Anhieb funktioniert hat. Wir haben ziemlich schnell gelernt, dass es im Zusammenhang mit KI auch auf die Datenselektion ankommt. Denn bei einem Ganzkörper-CT stellt sich meist die Frage: Wann kuck ich mir jetzt noch die peripheren Lungenarterien an, um eventuell eine Lungenarterienembolie zu sehen?

Vor zwei Jahren hatten wir uns einen guten Marktüberblick verschafft. Ich gebe zu, das fällt einem jetzt schwerer, da so viele Firmen in so kurzer Zeit dazugekommen sind.

Wir haben uns bewusst für ein Unternehmen mit einer Plattformlösung entschieden, das in der Lage ist, nicht nur Algorithmen von Drittanbietern zu integrieren, sondern auch eigene Algorithmen entwickelt. Dadurch haben wir als Radiologen eine Idee davon bekommen, wie die KI-Entwicklung und Integration praktisch funktionieren. 

Das heißt, der große Vorteil dieser Lösung ist, dass sie eine Plattform mit eigenen Algorithmen bietet, die auch in der Lage ist, Drittanbieter zu integrieren?

DR. GÖLZ: Genau, das ist jedoch davon abhängig, welche Beziehungen die Unternehmen untereinander pflegen. Ein besonders wichtiger Aspekt ist, dass die Plattformanbieter darauf achten, qualitativ hochwertige KI-Anbieter mit validen Algorithmen ins Portfolio aufzunehmen. Für die Schlaganfalldiagnostik haben wir beispielsweise bereits zwei Algorithmen des Plattformanbieters integriert. Um unser Angebot abzurunden, haben wir uns für einen Algorithmus eines weiteren Anbieters entschieden, der die CT-Perfusion unterstützt. 

Gibt es bereits weitere Pläne, die Lösung auszubauen?

PROF. MUTZE: Ja, es gibt zwei Themen, die wir besonders im Visier haben. Das eine ist, wir werden mit dem Hersteller unserer Wahl einen Enterprise-Vertrag abschließen, sodass uns alle Lösungen, die dieses Unternehmen momentan im Portfolio hat, zur Verfügung stehen. Das bringt uns auf ein ganz neues Niveau, denn damit vergrößern wir die Breite unserer KI-Anwendungen deutlich. Und das zweite Thema ist, dass wir raus wollen aus der reinen Radiologie und uns ein weiteres Betätigungsfeld erschließen. 

DR. GÖLZ: Das weitere Betätigungsfeld wird die Schlaganfallversorgung betreffen. Wir möchten die Untersuchungen auf mobile Endgeräte bringen, um aus der Klinik raus zu gehen. Unsere Kollegen im Rufdienst sollen neue Fälle von zuhause aus beurteilen können, um zu entscheiden, ob der Schlaganfall intravenös oder endovaskulär therapiert werden muss. 

Neben der automatisierten Analyse der Bilddaten wollen wir das System mit dem Krankenhausinformationssystem vernetzen, um zusätzliche Informationen zur Patientenhistorie zu erhalten und um interdisziplinär eine abgerundete Therapieentscheidung zu treffen. 

PROF. MUTZE: Der Schlaganfall liegt uns beiden am Herzen, da wir beide interventionell-neuroradiologisch tätig sind. Der nächtliche Schlaganfall ist bekanntlich ein Klassiker, an dem extrem viele Teams mit komplexen Entscheidungsströmen gleichzeitig arbeiten. 

Das KI-System soll im Hintergrund alle Informationen sammeln, auswerten und entscheidungsunterstützend die Reaktionszeit bis zur Thrombektomie verkürzen. Von diesem neuen Projekt versprechen wir uns eine ganze Menge, denn wenn man das beim Schlaganfall hinbekommt, wird es vermutlich auch für Herzinfarkte, Lungenembolien und Polytraumata Vorteile bringen. 

Das heißt, wir beginnen schon bald ein Pilotmodell, das gleichzeitig Daten des Krankenhausinformationssystems und klinischer IT-Lösungen auswertet. 

Damit wollen wir uns über die KI besser aus der Radiologie mit unseren Nachbardisziplinen verbinden und eine neue Dimension erschließen.